Weinwissen

 

Erläuterung des Fachbegriffes Physiologische Reife:
 
Wenn von der Reife der Trauben und der Qualität des Weines gesprochen wird, steht die Frage nach dem Mostgewicht fast immer im Mittelpunkt der Diskussion. Das Mostgewicht, ausgedrückt in Grad Öchsle, steht in engem Zusammenhang mit dem Zuckergehalt bzw. dem potenziellen Alkoholgehalt des Mostes. An ihm werden die Qualitätsstufen des deutschen Weingesetzes festgelegt. Sogar die Preisbildung bestimmte es mit, als in früheren Zeiten den Prädikatsstufen dieses Gesetzes noch eine Wertigkeit innewohnte, die sie weitgehend verloren haben.
Diese Bedeutung des Mostgewichts als alleiniges Qualitätskriterium wird zunehmend in Frage gestellt. Erste Zweifel wurden laut, nachdem es gelang, durch eine Kombination bestimmter Rebsorten, Klone, Anbauflächen und Bearbeitungsformen hochgrädige Prädikatsweine zu erzielen, obwohl der Ertrag 150 oder gar 200 hl/ha überstieg. Die Zweifel verstärkten sich, als eine erschreckende geschmackliche und aromatische Armut bis hin zum UTA in bestimmten Weinen im Prädikatsbereich erkannt wurde. Diese Entwicklung wurde beschleunigt, seit sich ab Anfang der 90er Jahre mittel-fristige Klimaveränderungen in Verbindung mit Ozonloch und erhöhter UV-Strahlung abzeichneten. Inzwischen ist es eine weithin bekannte Erscheinung, dass allein ein hohes Mostgewicht noch keine Garantie für Qualität darstellt. Anders gesagt, die Spanne zwischen Mostgewicht und Qualität klafft zunehmend weiter auseinander bzw. die Qualität folgt nicht linear dem Mostgewicht. Um diese Entwicklung nach-vollziehen zu können, bedarf es einer gewissen sensorischen Sensibilität. Doch selbst wenn diese vorliegt, ist es vom rationellen Verstehen bis zum emotionalen Umsetzen noch ein langer Weg.

So werden gewisse Symptome der Unreife wie vegetativ-grüne Aromen oft noch als Fehler interpretiert und entsprechende kellertechnische Lösungen wie Schönungen usw. gesucht, obwohl die Ursache des Übels vorrangig in einem Mangel reifer Aromen zu suchen ist. Die Argumentation, dass das Mostgewicht ausschließlich die alko-holische Reife wiedergibt und nicht unbedingt mit einem allumfassenden Reifebegriff einhergehen muss, kann vom betroffenen Winzer rational noch verstanden werden. Am Ende der Ausführungen kommt dann in monotoner Wiederkehr der Einwand, dass der Most doch so viel Grad Öchsle aufwies und dies alles nicht sein könne. Diese Schwierigkeit, die Reife vom Mostgewicht losgelöst zu betrachten, demonstriert die geradezu mystische Bedeutung des Mostgewichts als allein glücklich machender Reifeindikator und seine Verankerung in den Mentalitäten.
Wein ist mehr als eine wässrige Lösung von Alkohol, Zucker und Säure. Da das Mostgewicht nur ein Maßstab für die alkoholische Reife ist, muss es zwangsläufig noch andere Begriffe der Reife geben. Solche Begriffe umfassen die aromatische und die phenolische Reife, oft auch mit physiologischer Reife umschrieben. Sie sind wesentliche Bestandteile der inneren Qualität des Weines und können keineswegs direkt an die alkoholische Reife gebunden werden. Deshalb kann es völlig ausdrucks-lose und eindimensionale Spät- und Auslesen geben. Besonders in Produkten aus Massenträgern ist die innere, sensorisch umsetzbare Qualität unterentwickelt, weil wesentliche wertbestimmende Inhaltsstoffe nur im Mangel vorliegen. Reife und Ertrag hängen eng miteinander zusammen. Während der Reife geschieht weitaus mehr als nur eine Zunahme des Mostgewichts und eine Abnahme der Säure.
Noch lange, nachdem die Zunahme des Mostgewichts zum Stillstand gekommen ist, läuft die Synthese von Aromastoffen weiter. Sie sind es, die bei identischem Most-gewicht einen reifen von einem unreifen Wein unterscheiden.
Im Extremfall können Trauben von 85° Öchsle und mehr einen Wein liefern, dessen Aroma dem eines Tafelweins von 55° Öchsle gleichkommt. Solche grün-vegetativen Aromen erinnern an den Geruch zerdrückter Grashalme oder eines frisch gemähten Rasens. Man muss es nur wahrhaben wollen. Reife Aromen, die die Trauben in diesem Fall nicht liefern, können keineswegs durch spezielle Hefen oder Gärkühlung in den Wein eingebracht werden. Gäraromen sind nämlich kurzlebig. Wenn sie nach dem Sommer des Folgejahres zerfallen sind, bleibt nur das traubenbürtige Primäraroma übrig.

Eine vergleichbare Bedeutung kommt der phenolischen Reife roter Trauben zu. Die phenolische Reife beschreibt nichts anderes als die Qualität des Tannins, welches aus dem Lesegut extrahiert werden kann. Genügend Farbe zählt dazu. Der Zusatz handelsüblicher Tannine kann Rotweine mit qualitativ und quantitativ unbefrie-digendem Tanningerüst nur sehr beschränkt verbessern, da es sich um eine andere Art von Tannin handelt. Trauben mit phenolischer Unreife liefern erhöhte Mengen stark adstringierender Tannine aus den Kernen, während mit steigendem Reifegrad die Extraktion weniger aggressiver Tannine aus der Beerenschale zunimmt. Ein unreifes Tannin äußert sich geschmacklich auch dahingehend, dass es mehr Säure vortäuscht als von Säuregehalt und pH-Gehalt des Weines her zu erwarten ist. Dieser ge-schmackliche Effekt kann durchaus mehr als 1 g/l Säure entsprechen, was innerhalb der für Rotweine akzeptierten Säurespanne recht viel bedeutet. Entsprechend weiter muss herunterentsäuert werden.
Dem nervös-sauren Geschmack unreifen Tannins steht ein leicht süßlicher Geschmack reifen Tannins entgegen. Die chemischen Ursachen des sauer-adstringierenden Tannins sind nur zum Teil bekannt. Mit Sicherheit spielen sein geringer Poly-merisationsgrad und ein Mangel an geschmacklich puffernden Kolloiden eine Rolle.
Es gibt zahlreiche analytische Ansätze zur Charakterisierung von aromatischer und phenolischer Reife. Betriebsstrukturen und Chargengrößen schließen den analytischen Aufwand oft aus. Doch es gibt einige einfache Tests zur Kontrolle der physiologischen Reife vor der Lese. Dazu zählen:

  • Optische Bonitierung der Trauben. Gelblich verfärbte Beerenschalen weißer Trauben signalisieren Reife; grüne Beeren lassen eine defizitäre Reife erwarten.
  • Riechen an den Beeren und ihr Zerkauen. Aromatisch reife Trauben können am Geruch deutlich von unreifen unterschieden werden.
  • Zerdrücken von Beeren. Braune, gut verholzte Kerne, die sich leicht vom Frucht-fleisch abtrennen lassen, sind ein Zeichen physiologischer Reife. Lässt sich nur wenig Saft aus einer markigen Pulpe mit anhaftenden Kernen herausdrücken, sind die Trauben unreif.
  • Ein braunes, verholztes Stielgerüst bei roten Trauben weist auf eine gute phenolische Reife hin. In diesem Fall kann sogar ein Teil der Stiele mitvergoren werden.

Grundsätzlich gilt: Durch eine Mostkonzentration kann nur konzentriert werden, was von den Trauben her vorliegt. Reife Weine werden dichter, unreife Weine werden noch unreifer.

Quelle: Autor Volker Schneider aus Deutsche WinzerZeitung 9/2003